Archivinhalt
Dieser Artikel stammt aus der Zeit meiner politischen Arbeit bis Oktober 2017 und kann überholte Informationen enthalten.

Meinen aktuellen Webauftritt finden Sie hier:
→ www.dagmar-woehrl.consulting



WöhrlWideWeb: Entwicklungsländer dürfen nicht zu den Verlierern des ACTA-Abkommens werden

Auch aus entwicklungspolitischer Sicht ist ACTA abzulehnen
Ich hatte schon früh meine Bedenken zum Anti-Counterfeiting Trade Agreement/ACTA (= Handelsübereinkommen zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie) geäußert und angekündigt, ACTA nochmals hinsichtlich seiner Auswirkungen speziell für Entwicklungsländer zu überprüfen. Zu diesem Zweck habe ich ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags in Auftrag gegeben, welches mir nun vorliegt und meine eigene Recherche über die potentiellen gefährlichen Auswirkungen von ACTA auf Entwicklungsländer bestätigt hat. Ich habe auch umgehend beantragt, dass das Gutachten veröffentlicht wird, damit Ihr auch alle Zugang zu diesen Informationen erhaltet, denn wenn man eines aus der Diskussion um ACTA lernen sollte, dann doch das es nicht an Transparenz mangeln darf. Sobald das Gutachten veröffentlicht ist, werde ich Euch darüber informieren.

ACTA, Entwicklungsländer und Netzpolitik
Als Fachpolitikerin hat mich ACTA insbesondere aus der entwicklungspolitischen Perspektive interessiert, nicht nur als netzpolitisches Thema. Denn Netzpolitik ist für mich ein Querschnittsgebiet, das nicht abgesondert von anderen politischen Feldern existiert, sondern mit fast allen Themen eng verwoben ist. Es wurde schon viel über ACTA geschrieben und gesagt bzgl. möglicher Netzsperren, die durch ACTA eingeführt werden könnten. Außerdem gab es Befürchtungen, dass die Rechte von Internetnutzern zu Gunsten von Urheberrechtsinhabern einseitig eingeschränkt werden könnten. Ich wollte noch einmal einen Schwerpunkt auf die entwicklungspolitischen Aspekte legen.

Solange ACTA noch zur Debatte steht, gilt es, das höchste Maß an Transparenz hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen des Abkommens auf Entwicklungsländer zu fordern. Hier genügt es nicht, eine Entscheidung pro oder contra ACTA auf Vermutungen basierend zu treffen. Die Konsequenzen für Entwicklungsländer sind zu wichtig, als dass man bei dem Thema im Konjunktiv bleiben könnte. Mir ist natürlich klar, dass diese Unbestimmtheit auch auf dem Umstand beruht, dass ACTA lediglich einen Mindeststandard normiert. Aber nur wenn die Bedenken hinsichtlich des politischen Drucks auf Entwicklungsländer, der Probleme beim Transport von Generika und der Patentierung von Saatgut vollkommen widerlegt werden können, wäre eine Zustimmung zu ACTA für mich möglich. Wenn diese Transparenz, Eindeutigkeit und Klarheit nicht hergestellt werden kann, darf aus entwicklungspolitischer Sicht ACTA nicht ratifiziert werden. Profit darf nicht über Vernunft gestellt werden.

Versteht  mich nicht falsch, es steht außer Frage, dass wir bei der Produkt- und Markenpiraterie neue Regelungen benötigen, die zum einen den aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf die Digitalisierung der Bevölkerung und zum anderen der immer weiter fortschreitenden globalen Vernetzung Rechnung tragen. Aber der vorliegende Entwurf scheint mir nicht der richtige Weg zu sein, um die dringend benötigte Rechtssicherheit und auch einen dauerhaften Rechtsfrieden zu erreichen.

Die hitzige und ideologische Debatte rund um eine Reform des Urheberrechts in Deutschland zeigt zudem, dass alle, die jetzt nach mehr Beteiligung rufen, auch bereit sein müssen Abstriche zu machen. Aber die Rechtsunsicherheit für große Teile der Bevölkerung im Netz muss ein Ende haben. Gleichzeitig muss geklärt werden, was im Internet legal sein soll und was nicht! Auch wenn ACTA verhindert werden kann, ändert dies nichts daran, dass wir international einen Rechtsrahmen für die Bekämpfung der Produkt- und Markenpiraterie schaffen müssen. Sollte ACTA scheitern, müssen zukünftige Abkommen zu diesem Thema auch Entwicklungsländer und deren Bedürfnisse von Anfang an mit einbeziehen!

Nachstehend möchte ich detailliert auf einzelne Auswirkungen von ACTA auf Entwicklungsländer eingehen:

Beteiligung von Entwicklungsländern
Die Entwicklungsländer waren von den Verhandlungen weitestgehend ausgeschlossen. Auch wenn die Entwicklungsländer zunächst nicht gezwungen sind, dem Abkommen beizutreten und auch wenn ACTA als völkerrechtlicher Vertrag keine Drittwirkung entfalten kann, so könnte ACTA dennoch Auswirkungen auf Entwicklungsländer haben. So ist zu befürchten, dass eine ACTA-Zustimmung zukünftig die Voraussetzung für weitere bilaterale Freihandelsabkommen sein könnte und dass der allgemeine politische Handlungsspielraum von Entwicklungsländern eingeschränkt sein wird, wenn sie ACTA nicht ratifizieren. Der Vorwurf, ACTA sei im Geheimen und wenig transparent ausgehandelt worden, ist teilweise schwierig. Denn natürlich werden völkerrechtliche Verträge oft zunächst einmal in Expertenkreisen und in kleiner Runde diskutiert. ACTA unterscheidet sich hier nicht von anderen internationalen Verträgen. Gerade bei völkerrechtlichen Verträgen erfolgt eine parlamentarische Kontrolle im Nachgang. Allerdings muss dies im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass künftig völkerrechtliche Verträge nicht transparenter gestaltet werden können. Die Zeit der Hinterzimmer-Deals ist vorbei und die weltweit große Aufmerksamkeit für ACTA zeigt, dass Menschen Interesse haben, sich in den politischen Prozess einzubringen und dass das Internet hier auch neue Möglichkeiten bietet. Ich bin aber auch Realistin und mir ist klar, dass die Weltbevölkerung gemeinsam nicht an einem einzigen Pad arbeiten kann und dann ein sinnvoller völkerrechtlicher Vertrag herauskommt. Gerade aber, wenn es darum geht, die Interessen aller Länder zu wahren, sollte man wenigsten versuchen, alle Länder, die von möglichen Auswirkungen betroffen sein könnten, zu beteiligen. Es wurde auch bei den ACTA-Verhandlungen darüber gesprochen, interessierte Entwicklungsländer einzubinden. Allerdings wurde hiervon dann wieder abgesehen. Eine Beteiligung mag die Verhandlungen zwar schwieriger gestalten, sie kann aber auch zu dauerhafteren Lösungen führen. ACTA hat dies nicht geschafft. Im Übrigen fragt man sich schon, wie effektiv ein Abkommen über Urheberrechtsverletzungen und Piraterie sein kann, wenn diejenigen Länder, in denen die meisten Verstöße vorkommen, beispielsweise China und Russland, nicht in die Verhandlungen eingebunden werden.

Zugang zu Medikamenten
Generika sind qualitativ hochwertige und vor allem wesentlich kostengünstigere Kopien von Originalmedikamenten. Und Generika sind legal! Beispielsweise kostet heute eine HIV/Aids-Therapie nur einen Bruchteil des Preises von vor knapp fünfzehn Jahren aufgrund von Generika. In Sub-Sahara-Afrika wird nahezu der gesamte Bedarf an HIV/Aids-Medikamenten durch indische Generika gedeckt. Aber welche Auswirkungen könnte nun ACTA haben? Wenn ACTA auf Handelsgüter im Transit angewandt wird, könnte dies dazu führen, dass Güter beschlagnahmt werden, obwohl sie weder im Ursprungsland noch im Zielland von den ACTA-Regeln betroffen sind (Bsp.:  Generika aus Indien werden zur Kontrolle in Holland im Hafen festgehalten, obwohl sie weiter nach Lateinamerika geliefert werden sollten). U.a. warnt Frank Dörner, Geschäftsführer von „Ärzte ohne Grenzen“ in dem Gutachten vor Lieferungsverzögerungen durch ACTA. Zollbehörden verfügen oft nicht über die notwendige Expertise zur Unterscheidung von Generika und Fälschungen und könnten so verdächtige Generika beschlagnahmen und lange zur Prüfung festhalten. Es ist also zu befürchten, dass lebensnotwendige Medikamente sowie kostengünstige und legale Generika in großem Maße konfisziert und vernichtet werden könnten. Zwar ergeben sich Maßstäbe für Zollkontrollen aus einschlägigem innerstaatlichem Recht und nicht direkt aus ACTA. Allerdings könnten die Bestimmungen zu Grenzmaßnahmen im Abkommen zu Änderungen führen. So könnte dann beispielsweise auch gegen Dritte, unbeteiligte Parteien wie „Ärzte ohne Grenzen“ an den Grenzen Unterlassungsanordnungen und einstweilige Maßnahmen erlassen werden. Gerade die Ärmsten der Armen sind allerdings auf Generika angewiesen, da die markenrechtlich geschützten Medikamente für sie bei Weitem unerschwinglich sind. Wenn ACTA hier zum Tragen käme und dem Interesse der Pharmaindustrie mehr Beachtung geschenkt wird, als dem Leiden von Millionen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika, dann stünde eindeutig Profit über Vernunft.

Agrarpolitische Probleme
Stärkerer Schutz der Patentierung von Saatgut wäre für Bauern in Entwicklungsländern ein Existenzproblem. Patentierung stärkt oft die Dominanz weniger multinationaler Unternehmen. Die Saatgut-Unternehmen kontrollieren mit Lizenz-Systemen den internationalen Handel von „geistigem Eigentum und natürlichen Ressourcen“. Die Lebensgrundlage der Bauern in Entwicklungsländern würde wegfallen, denn sie können keine Lizenzgebühren für patentiertes Saatgut aufbringen. Es droht die Einschränkung des Menschenrechts auf Nahrung, kurz, die Bauern würden aus lizenzrechtlichen Gründen verhungern. Außerdem könnte Entwicklungsländern der Marktzugang verweigert oder die Zahlung von Lizenzgebühren erzwungen werden. Welcher Ausgleich für die Unternehmen bzw. welche zusätzliche Hilfe für die Entwicklungsländer notwendig werden – auch hierüber wurde nicht gesprochen.

Zusammenfassung
Viele Passagen in dem Vertragswerk sind – ob bewusst oder unbewusst – unklar formuliert. Befürworter von ACTA sehen darin die Ungefährlichkeit des Abkommens: die Gesetzgebung obliegt immer noch dem jeweiligen Staat und so kann und soll ACTA nur als Leitvorlage und Mindeststandard dienen. Kritiker befürchten hingegen, dass unscharfe Formulierungen auf konkrete Bereiche ausgedehnt werden könnten und so die Privatsphäre einzelner Bürger beschneiden könnten. Es wurde auch keine verlässliche Folgenabschätzung der Vertragsinhalte für Entwicklungsländer vorgenommen. Diese Formulierungsunschärfe ist es auch, die die Folgen des Abkommens schwer abschätzbar macht. Die Ratifizierung von ACTA sollte ausgesetzt und stattdessen ein Abkommen ausgearbeitet werden, bei dem alle Beteiligten – Politik, Wirtschaft , Zivilgesellschaft und eben auch Entwicklungsländer – gemeinsam auf der Basis ihrer jeweiligen Expertise – ein nachhaltiges Abkommen entwickeln, das zu einem fairen Interessenausgleich führt.

Weitere Dateien:
Nachstehend findet Ihr noch eine Übersicht, die wir erarbeitet haben. Es werden dort die kurz-, mittel-, und langfristigen Auswirkungen von ACTA auf Entwicklungsländer dargestellt, was die ACTA-Befürworter dazu sagen und wie ich den Sachverhalt einschätze. Zudem findet Ihr auch meine beiden ersten Statements zu ACTA.

Ich hoffe, hiermit einen Beitrag zur aktuellen Diskussion geleistet zu haben und freue mich auf Euer Feedback.

Download “WöhrlWideWeb: Entwicklungsländer dürfen nicht zu den Verlierern des ACTA-Abkommens werden” (PDF 100kb)
Download “Übersicht Auswirkungen von ACTA auf Entwicklungsländer” (PDF 60kb)

 

Bisherige Veröffentlichungen zum Thema ACTA:

ACTA ad acta legen – Warum ich gegen ACTA bin.
Profit nicht über Vernunft stellen. Die möglichen Auswirkungen von ACTA auf Entwicklungsländer.
It’s the internet, stupid! Web 2.0 ist nicht Geschichte, sondern der Anfang.

, , , , , , , , , ,

6 Responses to WöhrlWideWeb: Entwicklungsländer dürfen nicht zu den Verlierern des ACTA-Abkommens werden

  1. Martin Petermann 25. April 2012 at 08:51 #

    Danke für den interessanten Artikel. Ich habe ihn auf unserer Internetseite verlinkt:
    http://gruene-bochum.de/meta-navigation/gruene-themen/demokratie-netzpolitik/netzpolitik/acta/

Trackbacks/Pingbacks

  1. WöhrlWideWeb: Bundesregierung muss bei ACTA Vorbildfunktion einnehmen – Entwicklungsländer dürfen nicht zu den Verlierern von ACTA werden › Dagmar G. Wöhrl - 12. Mai 2013

    […] WöhrlWideWeb: Entwicklungsländer dürfen nicht zu den Verlierern des ACTA-Abkommens werden geschrieben am 24. April 2012 […]

  2. ACTA zeigt, wie man es nicht machen sollte | Dagmar G. Wöhrl - 4. Juli 2012

    […] mit antiretroviralen Medikamenten und beim Import und Export von Saatgut wäre enorm gewesen, wie ein von mir in Auftrag gegebenes Gutachten […]

  3. Interessantes Expertengespräch zu den möglichen Problemen von ACTA in Entwicklungsländern | Dagmar G. Wöhrl - 4. Juni 2012

    […] WöhrlWideWeb: Entwicklungsländer dürfen nicht zu den Verlierern des ACTA-Abkommens werden –… […]

  4. Im Netz dahoam | Dagmar G. Wöhrl - 3. Mai 2012

    […] Als Vorsitzende des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung habe ich nun ACTA aus entwicklungspolitischer Sicht analysiert. Darüber hinaus beschäftige ich mich derzeit auch mit dem Thema Digitalisierung in Entwicklungs- […]

  5. Erste CSU-Politiker gegen ACTA | invia 1200 - 25. April 2012

    […] wird, da sich nun bereits erste Politiker der CSU der Argumentation der Kritiker anschließen. Dagmar Wöhrl schreibt auf ihrem Blog: Solange ACTA noch zur Debatte steht, gilt es, das höchste Maß an […]