Archivinhalt
Dieser Artikel stammt aus der Zeit meiner politischen Arbeit bis Oktober 2017 und kann überholte Informationen enthalten.

Meinen aktuellen Webauftritt finden Sie hier:
→ www.dagmar-woehrl.consulting



Schwarmintelligenz für die Entwicklung ländlicher Räume.

2010.11.10-GTZ-Landliche-Entwicklung-Logo

Entwicklung ländlicher Räume.
Neue Partnerschaften aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft
Netzwerkveranstaltung am 10. und 11. November 2010 in der Jerusalemkirche in Berlin

Rede der Vorsitzenden des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dagmar G. Wöhrl MdB

Fotograf: Paul Hahn. Zum Vergrößern bitte Bild anklicken.

Noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert siedelten 85 Prozent der Weltbevölkerung im ländlichen Raum. Kaum 100 Jahre später lebt schon die Hälfte der Menschheit in Städten. Im Jahr 2030 sollen es voraussichtlich 60 Prozent sein.

Wie gehen wir mit diesem Verstädterungsprozess um? Bei der Beantwortung der Frage gibt es zwei Seiten zu beachten.

Auf der einen Seite gilt:
Industrieländer müssen gegen einen Schrumpfungsprozess der Bevölkerung ankämpfen.
Schwellen- und Entwicklungsländer dagegen müssen gegen eine „Urbanisierung in Armut“ ankämpfen.

Auf der anderen Seite gilt:
Die ungebremste Landflucht wirkst sich auf die Ernährungssituation der Städte aus. Die starke Abwanderung vom Lande zieht aber auch existenzbedrohliche Situationen der Menschen auf dem Lande nach sich. Schon heute leben weltweit 75 Prozent der ärmsten Menschen in ländlichen Gebieten. Diese Menschen sind zumeist Kleinbauern, die zunehmend weniger in der Lage sind, sich und ihre Familien mit ihrer Arbeit auf ihrem Land zu ernähren.

Hier erkennt man: Armutsbekämpfung ist untrennbar mit ländlicher Entwicklung verbunden.

Der Agrarbereich ist über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt worden.
In den Industrieländern ist der Anteil der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA), der für ländliche Entwicklung eingesetzt wurde, in den vergangenen 30 Jahren von 20 Prozent auf 4 Prozent gesunken.

Auch die Regierungen in den Entwicklungsländern müssen stärker in die Pflicht genommen werden, um mehr für die Entwicklung der ländlichen Räume ihrer Staaten zu tun.
Wir können nur Impulse setzen. Die schöpferische Kraft – was daraus gemacht wird – müssen die Entwicklungsländer selbst aufbringen. Man kann kein Land von außen entwickeln.

Deshalb, meine sehr verehrten Damen und  Herren, ist es von zentraler Bedeutung, dass wir zu einer Stärkung der ländlichen Entwicklung und der ländlichen Räume kommen. Nur so schaffen wir ein Fundament für eine selbsttragende und selbstgestaltete Entwicklung.

Einer der Anstöße war der World Development Report 2008, der die ländlichen Räume in die entwicklungspolitische Diskussion zurückgeholt hat.
Der Weltbankbericht 2008 mit dem Titel „Agriculture for Development“ hat es uns schwarz auf weiß bestätigt: durch die Förderung des ländlichen Raumes hätte man einen viermal höheren Entwicklungseffekt erzielen können als durch die Förderung anderer Wirtschaftszweige.

Wir haben also Ziele! Wir müssen die Welternährung sichern. Prognosen gehen von bis zu 9 Milliarden Menschen aus, die im Jahr 2050 auf der Erde leben werden.
Wir wollen auch die Millenniumentwicklungsziele – die MDGs – bis zum Jahr 2015 erreichen.

Wir haben erkannt, dass wir zur Erreichung dieser Ziele im ländlichen Raum ansetzen müssen. Denn von diesem ist der größte Teil der (Welt-)Bevölkerung abhängig. Die Landwirtschaft stellt für 2,6 Milliarden Menschen die Erwerbsgrundlage dar.
Die Landwirtschaft der größte Beschäftigungszweig der Welt und ein entscheidender Wirtschaftsfaktor in Entwicklungsländern.

Aufgrund der Komplexität und der Reichweite der Entscheidungen gibt es jedoch für eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume keinen Königsweg.

Die Entwicklung ländlicher Räume ist eine Querschnittsaufgabe, bei der die unterschiedlichsten Faktoren zusammenkommen.

Nehmen wir – ganz naheliegend – das Land selbst. Es stellt sich die Frage, wem es gehört. In diesen Bereich gehört das Thema ‚Landreform‘ (die meisten Kleinbauern besitzen nur 2 Hektar Land)‚ das Thema ‚Eigentumsrechte‘ (Rechtssicherheit, Nutzungsrechte). Berührt werden aber auch die Themen der illegalen Besitznahme von Land aufgrund fehlender Grundbuchwesen bis hin zu neuen Formen eines globalen „Land-Grabbing“.

Was den Spekulanten im 17. Jahrhundert die Tulpen waren, das sind den Vertretern der neuen virtuellen Ökonomie die Nahrungsmittel an den Weltfinanzmärkten.

Hinzu kommen Themen wie der massenhafte Anbau von Agrartreibstoffen, der häufig in Konkurrenz mit dem Anbau von Grundnahrungsmitteln für die lokalen Bevölkerung tritt. Oder auch die veränderten Essgewohnheiten in rieseigen Schwellenländern wie China und Indien, die zu einer sehr stark wachsenden Nachfrage an Fleisch und Milchprodukten führt. Und – last but not least – kommen hinzu die Folgen des Klimawandels.

Nehmen wir den Aspekt ‚Ressourcenschonung‘. Stichwort :Wasserverbrauch‘. Heute entfallen 70% des weltweiten Wasserverbrauchs auf die Landwirtschaft. Das heißt, hier brauchen wir einen sparsameren Umgang und eine wirksamere Nutzung (z.B. durch effizientere Bewässerungssysteme).

Nehmen wir die Aspekte ‚Umweltschutz und Agrarforschung‘. Hier sind neue Lösungsansätze zu finden in der Schädlingsbekämpfung wie auch zur Wahrung der Artenvielfalt. Wir müssen optimale und traditionelle Anbaumethoden sinnvoll kombinieren, dabei aber auch lokale Ernährungsgewohnheiten berücksichtigen.

Dazu kommen schließlich eine Reihe von ökonomischen Aspekten: der Zugang zu Produktionsmitteln, die Gewährung von Mikrokrediten, die Schaffung wirtschaftlicher Betriebsgrößen, der Zugang zu Märkten durch verbesserte Infrastruktur.

Und nicht zu vergessen ist die dringende Notwendigkeit, faire internationale Handelsbedingungen zu schaffen. Die Entwicklungsländer haben allein aufgrund von handelsverzerrenden Maßnahmen einen Schaden von 700 Milliarden Euro. Das ist sechsmal mehr, als für die gesamte Entwicklungshilfe der Welt zur Verfügung gestellt wird. Das können die Geberländer nicht aus ihren Steuergeldern bezahlen.

Wir können nicht im Handel  den Entwicklungsländern mit der einen Hand nehmen, was wir ihnen mit der anderen Hand in der Entwicklungshilfe und anderer Hilfe geben. Wir sollten die Forderung nach Kohärenz deutscher Politik gegenüber Entwicklungsländern  – wie sie im Lissabon-Vertrag niedergelegt ist – ernster nehmen.

Uns muss bewusst sein, dass der ländliche Raum nicht nur ein wirtschaftlicher Raum sondern vor allem auch ein Lebensraum ist .

Sie sehen die enorme Komplexität des Themenfeldes. Unsere Antwort darauf muss zwei Teile enthalten – eine gewissenhafte Kooperation und eine sinnvolle Kohärenz der Politikbereiche.

Ich teile zwar nicht die ökonomischen Ansichten von Jeffrey D. Sachs – denn allein mit noch mehr Geld kann nicht unbedingt mehr Entwicklung erzielt werden. Aber ich teile seine Bewertung, wenn erfordert:

„Um die Armut zu beseitigen, bedarf es eines weltweiten Netzwerks der Kooperation zwischen Menschen, die sich nie begegnet sind und die sich nicht unbedingt gegenseitig vertrauen.“

Das heißt, meine Damen und Herren, für den Erfolg bedarf es einer Art „Schwarmintelligenz“ – einer Kultur der Kooperation aller Kräfte, Erfahrungen und Ideen.

Ich glaube, fraktionsübergreifend sagen zu können, dass unser Ausschuss diese Kultur praktiziert, indem er die Gedanken und Erfahrungen vieler – egal ob es Staat, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – in einem Forum zusammenführt. Vor allem die NGOs sind für uns in den letzten Jahren konstruktive Gesprächspartner geworden.

Jetzt wünsche ich Ihnen eine lebendige Diskussion und viel Erfolg für den weiteren Verlauf der Veranstaltung!

Rede im PDF Format zum Download
Programm Flyer der Veranstaltung im PDF Format zum Download

Fotograf: Paul Hahn. Zum Vergrößern bitte Bild anklicken.

, , , , , , ,

Comments are closed.