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Dieser Artikel stammt aus der Zeit meiner politischen Arbeit bis Oktober 2017 und kann überholte Informationen enthalten.

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Für die Freiheit des Gewissens + zum Schutz unserer Ärzte: Nein zu einer Neukriminalisierung der Suizidhilfe

Gemeinsam appellieren wir an die Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, sich in der Abstimmung am Freitag, 6. November, gegen eine Neukriminalisierung der Suizidhilfe zu entscheiden. Der Wunsch eines qualvoll Sterbenden nach Suizidassistenz wird durch unsere Gesetzentwürfe abgesichert. Auch eine Beibehaltung der geltenden Rechtslage würde diesem Ziel dienen.
Wer die jetzige Rechtslage beibehalten möchte, muss konsequent mit Nein stimmen.

Gemeinsamer Appell der Gruppe Hintze/Wöhrl/Dr. Reimann/Prof. Lauterbach/Lischka und der Gruppe Künast/Dr. Sitte/Gehring im Hinblick auf die abschließende Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Sterbehilfe

Gemeinsamer Appell der Gruppe Hintze/Wöhrl/Dr. Reimann/Prof. Lauterbach/Lischka und der Gruppe Künast/Dr. Sitte/Gehring im Hinblick auf die abschließende Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Sterbehilfe

 

Eine Bestrafung der „geschäftsmäßigen“ Suizidhilfe, wie sie der Gesetzentwurf Brand/Griese vorsieht, würde Ärzte der ernsthaften Gefahr staatsanwaltlicher Ermittlungen aussetzen. Betroffen wären insbesondere diejenigen Ärzte, die eine Vielzahl todkranker Menschen in der letzten Lebensphase begleiten, wie Palliativmediziner und Onkologen. Deshalb lehnt die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie jede Strafverschärfung im Bereich der Sterbehilfe ab. Fast 80 Prozent der Palliativmediziner wenden sich entschieden gegen neue Strafvorschriften. Umfragen belegen, dass gerade auch innerhalb der Palliativmedizin sich eine Mehrheit dafür ausspricht, dem eigenen Gewissen folgen zu dürfen.

Eine „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe gewährt derjenige, der mit Wiederholungsabsicht handelt, unabhängig davon, ob eine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt. Hierfür reicht nach der Begründung des Gesetzentwurfs Brand/Griese bereits eine einmalige Suizidhilfe aus. Ärzte, die in verantwortungsvoller Ausübung ihrer durch das Grundgesetz geschützten Gewissensfreiheit nur in sehr wenigen Ausnahmefällen eine Suizidhilfe leisten, gerieten in den Verdacht, mit Wiederholungsabsicht zu handeln. Da die Strafverfolgungsbehörden nach dem Legalitätsgrundsatz bereits bei einem Anfangsverdacht gehalten sind, strafrechtliche Ermittlungen aufzunehmen, um das tatsächliche Vorliegen einer Wiederholungsabsicht zu prüfen, müssten hiervon betroffene Ärzte unter Umständen mit Vernehmungen und Durchsuchungen rechnen. Auch wenn es im Ergebnis weder zu einer Anklage noch zu einer gerichtlichen Verurteilung kommen sollte, würden sich Ärzte von ihren Patienten zurückziehen, um von vornherein strafrechtliche Ermittlungen zu vermeiden und den eigenen Ruf zu wahren. Damit würde ein strafrechtliches Verbot das sensible und in der letzten Lebensphase besonders wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstören.

Die Behauptung, eine Bestrafung der „geschäftsmäßigen“ Suizidhilfe würde Ärzte nicht bedrohen, ist demnach falsch. Ärzte wären nur dann sicher geschützt, wenn es zu ihren Gunsten eine ausdrückliche Ausnahmeregelung gäbe, die die Gruppe Brand/Griese jedoch ausdrücklich verweigert.

Eine Neukriminalisierung der Suizidhilfe würde mit der 150jährigen Tradition im deutschen Strafrecht brechen, wonach eine Hilfestellung zum straflosen Suizid ebenfalls straflos ist. Nach den allgemeinen Regeln des Strafrechts ist eine Hilfestellung zu einer straflosen Handlung grundsätzlich ebenfalls straflos. Eine Strafbarkeit der Suizidhilfe würde demnach zu einem empfindlichen Systembruch im Strafrecht führen.

Das scharfe Schwert des Strafrechts ist die Ultima ratio des Rechtsstaats. Zu diesem scharfen Mittel darf der Staat nur dann greifen, wenn sich Gefahren für wichtige Rechtsgüter tatsächlich empirisch feststellen lassen. An einer solchen Gefährdung fehlt es im Bereich der Suizidhilfe ersichtlich. Die Fallzahlen in den Staaten, in denen die ärztliche Suizidhilfe erlaubt ist, bewegen sich auf einem konstant niedrigen Niveau. Sterbehilfevereine spielen in Deutschland seit Jahren eine nur marginale Rolle. Auch die gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit, eine medizinische Behandlung selbst dann zu verweigern – etwa in Form einer Patientenverfügung -, wenn eine solche zur Aufrechterhaltung des Lebens notwendig ist, wird von den betroffenen Menschen selbstbestimmt und eigenverantwortlich ausgeübt.

Im wertneutralen Staat des Grundgesetzes verbietet es sich, bestimmte moralische Einstellungen, über die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, mit dem Mittel des Strafrechts durchzusetzen. Dies zerstört den Rechtsfrieden in unserem Land und schwächt das Vertrauen der Menschen in den demokratischen Rechtsstaat.

Deshalb lehnen über 140 deutsche Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer – nahezu die gesamte deutsche Strafrechtswissenschaft – eine Neukriminalisierung der Suizidhilfe strikt ab.

Die gravierenden Folgen einer Neubestrafung der Suizidhilfe für Ärzte und Pfleger stehen außer Verhältnis zur anhaltend geringen Bedeutung von Sterbehilfevereinen. Die überwältigende Mehrheit schwer kranker Menschen entscheidet sich bewusst gegen Sterbehilfevereine und für eine Begleitung durch Ärzte, Pfleger und Angehörige in einer schweren Leidenssituation. Demgegenüber würde ein Verbot der „geschäftsmäßigen“ Suizidhilfe angesichts rechtlicher Unsicherheiten zu einer erheblichen Verunsicherung unter Ärzten und Pflegern führen und bereits bei wenigen Suizidhilfen strafrechtliche Ermittlungen nach sich ziehen. Ungeachtet eines strafrechtlichen Verbots von Sterbehilfevereinen und selbsternannten Sterbehelfern in Deutschland würden diejenigen, die in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts eine Suizidhilfe wünschen, auch weiterhin in die Schweiz gehen, statt sich zuhause in die Obhut ihrer Ärzte zu geben. Nicht Staatsanwälte, sondern verantwortungsvolle Ärzte und Pfleger gehören ans Krankenbett.

Die große Mehrheit in der Bevölkerung lehnt Strafverschärfungen im Bereich der Sterbehilfe ab. Die Menschen empfinden einen derart gravierenden Eingriff als einen illegitimen Übergriff des Staates. Darunter sind viele überzeugte Christinnen und Christen beider Konfessionen. Eine aktuelle Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland belegt, dass das Meinungsbild in der Bevölkerung sehr differenziert ist, wobei eine deutliche Mehrheit der Auffassung ist, dass Menschen ein Selbstbestimmungsrecht sowohl über ihr Leben als auch ihren Tod verfügen.

Wir halten es für ein Gebot unserer gesetzgeberischen Verantwortung, dass der Staat in höchstpersönlichen Fragen, die jeder Mensch nur nach seinem eigenen Gewissen beantworten kann, Zurückhaltung wahrt. Bevor Patienten bedrängt und Ärzte durch strafrechtliche Ermittlungen bedroht werden, sollte es besser bei der derzeitigen bewährten Rechtslage bleiben.

Peter Hintze MdB, Dr. Carola Reimann MdB, Prof. Dr. Karl Lauterbach MdB, Burkhard Lischka MdB, Dr. Kristina Schröder MdB, Dagmar Wöhrl MdB, Arnold Vaatz MdB
Renate Künast MdB, Dr. Petra Sitte MdB, Kai Gehring MdB

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